Noor Aldeen Hajjaj

Noor Aldeen ist ein Schriftsteller aus al-Shuja'iyya, Gaza. Sein Roman "Wings That Do Not Fly" wurde 2021 veröffentlicht; 2022 wurde sein erstes Theaterstück "The Grey Ones" aufgeführt. Er wurde am 2. Dezember 2023 im Zuge eines israelischen Massakers in al-Shuja'iyya getötet.

16. Oktober 2023

Tagebücher der Vertreibung im südlichen Gazastreifen.

Die andere Seite von Tod, Zerstörung und Angst.

Ich schlafe um vier Uhr ein und wache eine Minute später auf, um festzustellen, dass es bereits nach sechs ist. Ich gehe zur Bäckerei, wo eine lange Menschenschlange wartet, und nach dreieinhalb Stunden, mehr als ich geschlafen habe, komme ich an die Reihe. Man sagt mir, dass ich nicht mehr als ein Päckchen Brot mitnehmen kann. Ich versuche, meine Situation zu erklären, aber er hört mir nicht zu. Ich erkläre ihm, dass wir vertrieben wurden, dass wir hier bei einer Familie wohnen, dass wir insgesamt siebzig Personen sind, einschließlich der Kinder, und dass zwei Päckchen Brot nicht reichen werden. Da sagt er, ich könne zurückgehen und mich erneut anstellen, wenn ich mehr wolle. Ich nehme das Brot, spreche ein Gebet und gehe.

Ich komme nach einer halben Stunde Fußmarsch beim Haus an, da sagen sie mir, dass sie Wasser brauchen. Ich nehme den Kanister, gehe zur Wasserfiltrierungsstelle und stelle mich in eine Schlange, die länger ist als die letzte. Drei Stunden später bin ich an der Reihe. Ich gehe nach einem langen Tag zurück ins Haus, und wir sagen den Kindern: Ein Glas Wasser muss ausreichen, verschwendet es nicht. Ich lege mich auf das Sofa, um mich ein wenig auszuruhen, dann sagen sie mir, dass es fast Zeit zum Abendessen ist, und sie Brot und Essen aus dem Supermarkt haben wollen - also kehre ich zurück, zu noch mehr Schlangestehen, noch mehr Warten und noch mehr nicht existierender grundlegender Menschlichkeit.

Am Abend verspreche ich ihnen, dass ich am Morgen in das Haus in al-Shuja'iyya zurückkehren werde, aber zehn Minuten später verteilen wir den verfügbaren Platz neu, um jeden Zentimeter auszunutzen, auf dem ein Kind oder ein Erwachsener schlafen könnte - sogar die Flure und den Eingang - und bedecken den Boden der winzigen Wohnung mit dreißig Körpern. Wir stellen sicher, dass die Frauen und Kinder alle Platz haben, dann verteilen wir uns selbst, zwei schlafen auf der Couch und zwei bleiben wach, für den Fall, dass etwas passiert, Gott bewahre, so dass sie schnell alle anderen aufwecken können, nicht dass das nötig wäre, denn nach fünfzehn bis dreißig Minuten Schlaf werden wir sowieso alle durch den Krach schweren Bombardements geweckt werden, und die Kinder werden weinen, bis ihre Mütter sie wieder schlafen legen... Und so weiter, bis der Tag anbricht und der Kreislauf wieder beginnt.


1. November 2023

Guten Abend, Welt.

Die Internet- und Telefonverbindungen wurden letzte Nacht unterbrochen, und was ich einst für unmöglich hielt, wurde plötzlich Realität, allerdings zu  anderen Bedingungen. Der Briefträger kann inmitten der Bombardierungen und Zerstörungen seine Runden nicht drehen, und in den Zeitungen, die er trägt, werden ohnehin jeden Tag die gleiche Schlagzeile stehen: "Gaza wird ausgelöscht. Das Leben geht jeden Abend unter und steht am nächsten Tag nicht wieder auf.” Vielleicht wird die morgige Ausgabe die Nachricht von meinem Tod enthalten.

Das ging mir in dem Moment durch den Kopf, als die Kommunikation unterbrochen wurde und wir von der Welt abgeschnitten wurden, und die Welt von uns und dem, was mit uns geschah, abgeschnitten war. Die Bombardierung wurde intensiver, und wir legten unsere Hände auf unsere Herzen, weil wir genau das befürchtet hatten, und es jetzt soweit war, immer näher rückte - wir würden in Stille sterben, ohne dass die Welt etwas davon erfuhr, so dass wir nicht einmal unsere letzten Momente aufzeichnen oder unsere letzten Worte ausrufen konnten.

Ich wohne in einem kleinen Viertel namens al-Shuja'iyya, das am östlichen Rand von Gaza-Stadt liegt. Jede Nacht ist das Geräusch der Explosionen konstant zu hören - Explosionen unterschiedlicher Art, die aus verschiedenen Richtungen kommen - und bei jeder Explosion, die unser Haus und unsere Herzen erbeben lässt, halten wir uns aneinander fest, weil wir wissen, dass es irgendwann eine Explosion geben wird, die wir nicht mehr hören werden, weil sie uns bereits in die Luft gejagt hat.

Das ist der Grund, warum ich jetzt schreibe; es könnte meine letzte Botschaft sein, die es in die freie Welt hinaus schafft und mit den Tauben des Friedens fliegt, um ihnen zu sagen, dass wir das Leben lieben, oder zumindest das Leben, das wir fähig waren zu leben. In Gaza sind alle Wege vor uns versperrt, und stattdessen sind wir nur einen Tweet oder eine Nachricht weit vom Tod entfernt.

Wie auch immer, ich fange an.

Mein Name ist Noor Al-Deen Hajjaj, ich bin eine palästinensischer Schriftsteller, ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und habe viele Träume.

Ich bin keine Nummer, und ich bin nicht damit einverstanden, dass mein Tod eine Eilnachricht ist. Sagen Sie auch, dass ich das Leben, das Glück, die Freiheit, das Lachen der Kinder, das Meer, den Kaffee, das Schreiben, Fairouz, alles, was Freude macht, liebe - obwohl all diese Dinge innerhalb eines Augenblicks verschwinden werden.

Einer meiner Träume ist es, dass meine Bücher und meine Schriften die Welt bereisen, dass meine Feder Flügel bekommt, die kein ungestempelter Pass oder abgelehntes Visum aufhalten kann.

Ein anderer Traum von mir ist es, eine kleine Familie zu haben, einen kleinen Sohn, der aussieht wie ich, und dem ich eine Gutenachtgeschichte erzähle, während ich ihn in meinen Armen wiege.

Mein größter Traum ist, dass mein Land Frieden haben wird, dass die Kinder strahlender lächeln als die Sonne, dass wir an jedem Ort, wo einst eine Bombe fiel, Blumen pflanzen werden, dass wir auf jeder zerstörten Mauer unsere Freiheit nachzeichnen. Dass der Krieg uns endlich in Ruhe lässt, damit wir endlich einmal unser Leben leben können.

Noor Al-Deen Hajjaj

Gaza, Palästina, 28.10/.23


2. November 2023

Heute habe ich einen kleinen Spaziergang durch die Stadt gemacht - oder besser gesagt, durch das, was von ihr übrig ist.

Ich habe gesehen, wie ihre Farben zu einer einzigen Farbe zusammengewachsen sind. Woher kommt dieses Grau, dieses Grau, das die Macht hat, sich gegen alle uns bekannten Farben durchzusetzen, wenn nicht aus Tonnen von Sprengstoff?

Ich ging über Unmengen von Trümmern und versuchte, vorsichtig aufzutreten, wie in einem Minenfeld, um jede Stelle zu vermeiden, an der Kinder Träume und Erinnerungen entworfen hatten.

Ich hatte keine Angst, die ausgefransten Stromkabel auf der Straße zu berühren; sie waren nur Henkersschlingen, Zeugen dieser ganzen Zerstörung.

Ich sah Berge von Leichentüchern, die auf einem Lastwagen zum letzten und einzigen sicheren Ort der Erde gebracht wurden.

Es gibt keine Trauerzüge, bei denen die Märtyrer auf den Schultern zu ihrer letzten Ruhestätte getragen werden, denn ihre ganze Familie - ebenso wie sie Märtyrer - begleitet sie ins Grab.

Vielleicht war der letzte Wunsch, den sie äußerten, bevor die Bomben fielen, derselbe, den wir alle äußern: Wenn wir schon sterben müssen, dann lasst uns gemeinsam sterben. Wir wollen dem Tod nicht die Chance geben, einen und eine von uns allein zu lassen, der oder die für den Rest seines oder ihres Lebens um das Leben trauert, das die anderen hätten leben sollen.

Ich kam an einer Schule für vertriebene Kinder vorbei, und es tat mir im Herzen weh, zu sehen, wie die Humanität verletzt werden kann, wie unsere Grundbedürfnisse derart beschnitten werden können, dass wir am Ende um einen Liter Wasser oder ein Paracetamol feilschen müssen.

Andere Menschen laufen in alle vier Himmelsrichtungen auf der Suche nach einem Päckchen Brot oder einem Ort, an dem sie die Batterien der Taschenlampe aufladen können, die sie nachts benutzen, oder nach Wasser, das sicher zu trinken ist, oder nach anderen Grundbedürfnissen, die nicht mehr vorhanden sind.

All das habe ich während eines kurzen Spaziergangs entdeckt, der nicht länger als dreißig Minuten dauerte und mich ein paar Straßen in der Nähe hinauf und hinunter führte. Die meisten Häuser hatten die Einschläge, die ihre Dächer trafen, nicht überlebt und waren zu Boden gestürzt, auf ihre Bewohner drauf.

Gott, das Ausmaß der Katastrophe. Worte und Bilder können es nicht annähernd wiedergeben. Wir können das alles nicht mehr ertragen...

Wir sind so müde. Bitte, Gott, lass es früher zu Ende sein und nicht später.

Noor Aldeen Hajjaj wurde am 2. Dezember 2023 getötet, als israelische Kriegsflugzeuge fünfzig Wohnhäuser in al-Shuja'iyya bombardierten und zerstörten.

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