Hiba Abu Nada
Schriftstellerin aus Gaza. Geboren am 24. Juni 1991. Ihr erster Roman, Oxygen is not for the Dead, wurde 2017 veröffentlicht. Am Abend des 20. Oktober wurde Hiba Abu Nada zusammen mit ihrer Familie in Manara, einem Stadtteil von Khan Yunis, der Bombardierung ihres Hauses zur Märtyrerin.
7. Oktober, 6:54 Uhr
Wir gehen schlafen und denken an ganz alltägliche Dinge, an eine Universitätsprüfung, an den Kauf eines neuen Kleidungsstücks, an die Bewerbung um einen Job, und plötzlich ändert sich der Klang des Weckers, Prüfungen werden abgesagt, Schulen und Universitäten werden geschlossen, Schießpulver donnert überall, Al-Jazeera wird rot, wir schalten das Radio, Telegram, ein, in unseren Köpfen beginnen wir, all unsere Pläne umzuplanen. In Gaza ändert sich alles im Handumdrehen.
8. Oktober, 11:30 Uhr
Unsere Newsfeeds sind Beerdigungsinstitute/Gedenkfeiern/Nachrufseiten. Wir bewegen uns von einer Seite zur anderen, als würden wir über einen Platz voller Beerdigungen gehen, die dicht nebeneinander gezwängt sind. Gott, wie schwer diese Tage sind.
8. Oktober, 10:02 Uhr
Amerika will einen Flugzeugträger schicken, um die zionistischen Entität zu unterstützen. Gut, inshallah, wenn wir befreit sind, werden wir ihn in ein schwimmendes Restaurant im Meer verwandeln.
9 Oktober, 12:34 Uhr
— Woher kommen diese Salven?
— Aus unseren Herzen, die alle von den Qualen eines Gazaners bersten.
9. Oktober, 16:52 Uhr
In jedem früheren Krieg gab es eine Art Muster für die Ziele der Entität, einmal waren es Familien, ein anderes Mal Moscheen, ein anderes Mal Straßen, ein anderes Mal Grenzgebiete oder Stadtzentren, ein anderes Mal Hochhäuser, es gab eine Art Plan für die Explosionen, den wir nachvollziehen konnten, wir, die wir unter den Explosionen standen, und daraus konnten wir die Ziele und die Flugbahn ableiten, und wie lange der Krieg dauern würde.
Diesmal gibt es kein Muster, alles wird bombardiert, jeder frühere Krieg wird in diesen Krieg hineingezwängt, Gaza wird vom Norden bis zum Süden in chaotischer, katastrophaler Weise bombardiert, es gibt Massenabschlachtungen, sinnlose Attentate auf alles. Aber es ist unsere Ausdauer und unser Glaube an Gott, der es uns ermöglicht, die Flugzeuge zu betrachten und ruhig zu werden, bevor wir zu weinen beginnen, oder wenn wir nach der Stille zu weinen beginnen und sagen: O Gott, wir haben niemanden außer Dir.
9. Oktober, 6:39 Uhr
Liebe Freunde,
Wir treten in ein Kapitel ein, wo wir von der Welt isoliert sein werden, damit die Stadt in kürzestmöglicher Zeit ausgelöscht werden kann, eine Zeit, in der wir mit niemandem innerhalb oder außerhalb der Stadt kommunizieren können. Die Nacht ist noch nicht angebrochen und der Beschuss ist höllisch. Bis dahin, bedeckt uns mit einer Flut von Gebeten und sendet eine Botschaft, oder auch nur ein Wort, der Standhaftigkeit und der Freiheit unseretwegen. Wir vertrauen Gaza und alles, was darin ist, Gott, dem Wächter, dem Allmächtigen an.
10. Oktober, 9:29 Uhr
Zu Beginn des Tages, nachdem wir uns vergewissert haben, dass wir noch am Leben sind, fangen wir an, einander zu zählen, wer noch hier ist und wer zu einem Begräbnis geworden ist, nicht nur Menschen, sondern auch Straßen und Stadtteile. Die ganze Stadt ist zur Märtyrerin geworden.
10 Oktober, 20:56 Uhr
Ich suche Zuflucht bei Dir
vor Verletzung und Qual
die sieben oft wiederholten Verse
spreche ich auf
vor Phosphor, dem Geschmack von Orange
und den Farben der Wolken
vor dem Rauch
ich suche Zuflucht bei Dir
sie, die sich verliebten und starben
der Staub wird verwehen
und sie lachen
11. Oktober, 11:09 Uhr
Gaza hat alles getan, was sie konnte, um sich dieser Unterdrückung zu widersetzen. Sie übertraf die Vorstellungskraft, überschritt die Grenzen des Möglichen und Unmöglichen, zerschmetterte alle Ge- und Verbote, erfand eine Standhaftigkeit, die in der Geschichte gelehrt und Gaza zugeschrieben werden wird, und wenn die Lügen beseitigt sind, die Politiker und ihre Heuchelei wegfallen und die Porzellanmenschheit in sich selbst zusammenbricht wird Gaza bleiben, eine unbegreifliche, unmögliche Legende, ein Weltrekord, den Städte, Zivilisationen, Armeen nur in einer Ära der Propheten und der Wunder erreichen können.
Wir haben getan, was wir tun mussten, um unsere Rechte einzufordern, um zu kämpfen, um auszuhalten, im Namen der Nation und aller Unterdrückten dieser Welt, es gibt nichts zu bedauern oder zu beklagen. Vor Gott und vor uns selbst sind wir Menschen mit einem rechtmäßigen Anspruch, unsere Pflicht in diesem Bund war es, standzuhalten und zu streben, alles andere überlassen wir Gott, an ihn glauben wir, ihm vertrauen wir. Wenn wir umkommen, ist das ein Ehrenzeichen, und wenn wir überleben, dann lasst uns die Saga erzählen und unsere Geschichte vor die Augen der ganzen Welt bringen. Dazwischen haben wir unsere Rituale - Tränen, Geduld, Trauer, Erinnerung, Hoffnung und Verzweiflung.
Und wenn wir sterben, um in unserem Namen zu sprechen, gab es hier Menschen, die von Reisen und Liebe und Leben und anderen Dingen träumten.
Wir sind unter den Flugzeugen, und Gott ist höher als diese, und höher als sie.
12. Oktober, 14:30 Uhr
Ganze Familienbäume sind umgestürzt, nicht Menschen oder Äste. Der Baum bricht mit allen in ihm zusammen, und Gaza verwandelt sich in ein Ödland, einen weitläufigen Friedhof, der sich von der Türschwelle der Arabischen Liga bis zum Podium der Vereinten Nationen erstreckt, und wir starren in unsere Gräber in Stille, Schwere, Ergebenheit gegenüber Gott.
13. Oktober, 12:15 Uhr
Heute ist Freitag. Das war keine Woche, es war ein einziger langer Tag unterteilt in Dutzende von Märtyrern und Verwundeten und viel Tod, und wir wissen nicht, worauf wir warten.
13. Oktober, 20:13 Uhr
Wir überleben hier von Augenblick zu Augenblick, der Moment, in dem uns ein Beitrag gefällt, der Moment, in dem wir den Wecker ausschalten, der Moment, in dem du deinen Sohn anrufst, du rufst an und vielleicht kommt keine Antwort, der Tod ist viel schneller!
15. Oktober, 17:19 Uhr
Das Geräusch, das wir hören, ist das Geräusch des Todes, der über uns hinweggegangen ist, um sich einen anderen auszusuchen. Wir sind noch am Leben, wir hören den Tod von anderen, die wir kennen, wir sagen: Gott sei Dank, das letzte Geräusch, das sie hörten, war nicht das Geräusch der Rakete. Diejenigen, die das Geräusch der Rakete hören, überleben. Wir sind bis auf weiteres am Leben.
15. Oktober, 20:47 Uhr
Wir sind oben und bauen eine zweite Stadt, Ärzt*innen ohne Patient*innen und Blut, Professor*innen ohne Überbelegung und Geschrei gegen Studierende, neue Familien ohne Schmerz und Traurigkeit, Journalist*innen, die das Paradies fotografieren, und Dichter*innen, die über die ewige Liebe schreiben, alle aus Gaza, alle. Im Himmel entsteht ein neues Gaza - unbesiegt.
17. Oktober, 11:46 Uhr
Es sind Kinder gestorben, die noch nicht ihren Namen benutzt hatten!
18. Oktober, 8:58 Uhr
Unsere Familienfotos, ein Sack mit Gliedmaßen, ein Haufen Asche, fünf eingewickelte Leichentücher nebeneinander in verschiedenen Größen.
Die Familienfotos in Gaza sind anders, aber sie sind zusammen, sie waren zusammen und sie sind zusammen gegangen.
18 Oktober, 19:17 Uhr
Wenn wir sterben, wisse, dass wir willig und standhaft sind, und sage von uns, dass wir Menschen mit einem rechtmäßigen Anspruch sind.
19. Oktober, 13:10 Uhr
Meine Freundesliste schrumpft und verwandelt sich in kleine Särge, die hier und da verstreut sind. Ich kann meine Freunde nicht mehr auffangen nach den Raketen, wenn sie wegfliegen, kann ich sie weder nicht mehr zurückholen noch mein Beileid bekunden oder weinen, ich weiß nicht, was ich tun soll. Jeden Tag schrumpft sie weiter, dies sind nicht nur Namen, es sind wir, nur mit anderen Gesichtern, anderen Namen.
O Gott, was sollen wir tun, o Gott, angesichts dieses riesigen Festes des Todes.
Es gibt hier keine Ikone, die sie zurückbringen könnte, selbst wenn sie abschwören.
19. Oktober, 13:47 Uhr
Mariam ist von ihrer Erschöpfung befreit worden, für immer befreit. Es tut mir leid, Mariam, für jede Auseinandersetzung, , die wir hatten, du und ich, so leid...
19. Oktober, 21:20 Uhr
Das gesamte Zahra-Viertel in Gaza ist bedroht, alle vierundzwanzig Türme werden jetzt bombardiert, eine ganze Stadt wird gemartert, Turm für Turm, o Gott, o Gott!
20. Oktober, 16:52 Uhr
Vor Gott sind wir in Gaza entweder Märtyrer oder Zeugen der Befreiung, und wir alle warten darauf zu erfahren, wo wir fallen werden. Wir warten alle, o Gott, Dein Gelöbnis ist wahr.
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Am Abend des 20. Oktober wurde Hiba Abu Nada zusammen mit ihrer Familie in ihrem Haus in Manara, einem Stadtteil Manara Khan Yunis, durch Bombardierung ihres Hauses zur Märtyrerin.
Wir ermutigen Sie, die Texte zu veröffentlichen, zu drucken und mit allen möglichen Mitteln zu verbreiten, um den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen.